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Judentum und Antisemitismus

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„Emanzipation“: [lat., zu emancipare‚ (einen Sklaven oder erwachsenen Sohn) aus dem mancipium (der feierlichen Eigentumserwerbung durch Handauflegen) in die Selbstständigkeit entlassen]; die Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit, Entrechtung oder Unterdrückung, bes. die rechtl. und gesellschaftl. Gleichstellung benachteiligter Gruppen vor dem Hintergrund der mit der Moderne seit dem 18. Jahrhundert in Erscheinung tretenden Gleichheits- und Gleichberechtigungsvorstellungen.

Brockhaus, 2006

Zousazinformatioun

Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 7, Leipzig, Mannheim 2006, S. 811.

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1789, der Beginn der Französischen Revolution, steht für die Einführung der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Dieses Prinzip galt ebenfalls in Luxemburg, seit das Herzogtum 1795 an Frankreich gefallen war. Die Französische Revolution brachte vielen, die zuvor aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren, die Gleichberechtigung. Dazu gehörte auch die jüdische Minderheit, die vorher stark diskriminiert gewesen war: Juden und Jüdinnen hatten keinen Zugang zu den Zünften und durften deshalb die von den Zünften geregelten Handwerke nicht ausüben. Deshalb zogen sie sich auf andere Berufe zurück: sie hausierten, betrieben Vieh­ und Pferdehandel, führten Herbergen oder übten kleine, nicht reglementierte Handwerke aus. Manche schufen neue Industrien.

Da es im Christentum untersagt war, Zins zu nehmen, waren es meist Menschen anderer Religionen, zum Beispiel protestantischen oder jüdischen Glaubens, die Geld verliehen. Diese Aktivität hatte jedoch einen sehr schlechten Ruf, man warf den Geldverleihern zum Beispiel vor, zu hohe Zinsen zu verlangen. In vielen Städten mussten Juden und Jüdinnen getrennt von der restlichen Bevölkerung in besonderen Vierteln leben, den Ghettos. Im Mittelalter und in der Neuzeit waren sie oft Opfer von Verfolgung und Vertreibung. In Luxemburg durften sich jüdische Familien vor der Französischen Revolution überhaupt nicht ansiedeln, sondern hatten nur für ein oder zwei Tage Zugang zu Städten, in denen Märkte veranstaltet wurden, um dort Handel zu betreiben.

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Während der Französischen Revolution wurde die Zunftordnung abgeschafft und die Gewerbefreiheit eingeführt. Die „Loi relative aux Juifs“ vom 13.11.1791 stellte die jüdischen Bürger mit den anderen gleich. Freiheit und Gleichheit, das bedeutete auch Religionsfreiheit und Gleichheit der Religionsgemeinschaften. Diese Gleichstellung wird mit dem Begriff „Jüdische Emanzipation“ bezeichnet.

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  • Goethe und seine Zeit (Salzburg: Andreas & Andreas, 1982), S. 281 © wikimedia commons
    Napoleon stellt des israelitischen Kult wieder her (30. Mai 1806)

Im Zuge der Französischen Revolution konnten sich auch in Luxemburg erstmals wieder jüdische Familien ansiedeln: In Luxemburg­ Stadt, Ettelbrück, Diekirch und Esch­Alzette entstanden lokale jüdische Gemeinschaften, aber auch in kleineren Ortschaften wie Medernach, Remich, Grevenmacher, Hamm oder Strassen ließen sich jüdische Familien nieder. Jüdische Männer nutzten die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten, sie spielten vor allem bei der Entwicklung der Luxemburger Textil- und der Lederindustrie eine wichtige Rolle.

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Als 1815 Napoleons Reich zusammenbrach, fiel Luxemburg an die Niederlande. Die freie Religionsausübung blieb weiterhin bestehen. So bildeten die Niederlande gemeinsam mit Frankreich einen westeuropäischen Raum, in dem sich die Judenemanzipation rechtlich verankert hatte. In anderen Ländern, die wie Luxemburg 1815 dem Deutschen Bund einverleibt wurden, wurde hingegen die rechtliche Gleichstellung der Juden ganz oder teilweise wieder aufgehoben. Weil das Großherzogtum zu den Niederlanden gehörte, zugleich aber Mitglied im Deutschen Bund war, wurde die Luxemburger Gesellschaft in besonderem Maße mit widerstreitenden europäischen Tendenzen konfrontiert: Auf der einen Seite standen jene, die sich weiterhin auf die Prinzipien der Französischen Revolution beriefen, besonders auf die Gleichstellung aller Bürger; auf der anderen positionierten sich jene, die gegen die jüdische Emanzipation eingestellt waren und diese nur widerstrebend akzeptierten.

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Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.

Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)


 
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Katholischer Antisemitismus

Die jüdischen Neuankömmlinge stießen aber auch in Luxemburg auf einen christlichen Antisemitismus, wie er in ganz Europa verbreitet war: Die Juden, so hieß es, hatten Christus ans Kreuz genagelt; sie waren „verstockt“, weil sie ihn nicht als Messias anerkannten. Juden wurden beschuldigt, Hostienfrevel zu betreiben, Ritualmorde an christlichen Kindern zu begehen und ihr Blut zu trinken.

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1841 wurde Johannes Theodor Laurent apostolischer Vikar in Luxemburg. Mit ihm konnte die ultramontane Strömung des Katholizismus, die den Papst und nicht die Regierungen als oberste Autorität ansah, auch in Luxemburg Fuß fassen. Aus dieser ultramontanen Haltung heraus stellte das „Luxemburger Wort“ 1850 die Judenemanzipation in Frage. So präzisierte das „Wort“: „Ein Jude soll nicht Inspector unserer christlichen Schulen sein, vor ihm soll nicht eine christliche Ehe, wenn auch nur civiliter geschlossen werden, er soll nicht unser Richter, unser Gesetzgeber sein.“

Zousazinformatioun

Zwei Jahrzehnte später hatte sich der Ton zwischen dem katholischen „Luxemburger Wort“ und seinen liberalen Kontrahenten weiter zugespitzt. Von liberaler Seite aus geriet das Priestertum ins Kreuzfeuer, die Vormachtstellung der Kirche im Schulsystem und in der Fürsorge waren gängige Themen. Das „Wort“ seinerseits kämpfte gegen jene, die es als Feinde der Kirche ansah, namentlich Liberale, Freidenker und Freimaurer, vor allem aber die Juden.

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Obwohl die jüdische Minderheit in Luxemburg weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung ausmachte, war in Luxemburg judenfeindliches Gedankengut keineswegs schwächer ausgebildet als in den Nachbarländern, und es hatte sich in gleichem Maß wie dort „modernisiert“. Über den Weg der internationalen Presse verbreiteten sich auch hier Behauptungen wie die einer jüdischen Weltverschwörung.

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Bildet Juda, das dem Talmud, dem Evangelium der Juden, zufolge sich noch immer als das „auserwählte Volk" ansieht und die ganze Welt als sein Eigenthum reclamirt, nicht die Spitze der Loge? [...] Ist der Anführer der Internationale nicht ein Jude? Ist das Haupt der „Liberalen“ im Deutschen Reiche nicht ein Jude? Erblickt Israel im ‚Liberalismus‘ nicht seinen Messias? [...] Soll man sich da noch wundern, daß die katholische Kirche mit ihren h. Lehren, Gebräuchen und Institutionen tagtäglich von der vom Judenthum beeinflußten und beherrschten Presse geschmäht und gelästert wird?

Luxemburger Wort, 1874

Zousazinformatioun

Liberalismus und Pharisäismus (Schluss), in: Luxemburger Wort, 24.11.1874, S. 2.

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Der „Judenprozess“

Unter den unzähligen antisemitischen Beiträgen im „Luxemburger Wort“ sticht eine Serie von 1888 hervor. Darin wurde die These vertreten, „alle Juden, sowohl Reform- als orthodoxe Juden“ betrachteten sich „als ein bevorzugtes Geschlecht, als eine höhere Rasse, welcher Gott die Weltherrschaft verheißen“. Der Talmud erlaube es den Juden, Christen zu betrügen, zu bestehlen und zu töten. Ihr Ziel sei es, das Christentum auszurotten und „die jüdische Weltherrschaft zu etablieren“. In einem anderen Artikel hieß es: „Wie die Juden Börsen- und Eisenbahnkönige sind, so sind sie nicht weniger die Könige der Presse.“

 

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Die Staatsanwaltschaft schritt ein und erhob Anklage gegen das „Luxemburger Wort“. Es kam zum Prozess, die Staatsanwaltschaft gründete ihre Anklage u. a. darauf, dass in den „Wort“-Artikeln wissentlich Unterstellungen formuliert würden, „welche in lügenhafter Weise den Juden beigemessen werden und welche geeignet sind, den öffentlichen Frieden, das Vermögen und die Ehre einer ganzen Klasse von Mitbürgern zu gefährden“. Der Verteidiger des „Luxemburger Wort“, übernahm in seiner Verteidigungsrede die Thesen des Blattes: Die Juden betrachteten sich als ein auserwähltes Volk und der Talmud halte fest, dass ihre Gesetze nur auf andere Juden, nicht aber auf Christen anzuwenden seien. Deshalb sei es ihnen auch erlaubt, gegenüber den Christen Wucherpraktiken anzuwenden. Die in Luxemburg lebenden Juden seien zudem zu großen Teilen keine Luxemburger. Schließlich wurde das „Luxemburger Wort“ wegen „Beleidigung eines vom Staate anerkannten Cultus“ verurteilt.

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Die Dreyfus-­Affäre in den Luxemburger Zeitungen

Der „Fall Dreyfus“ in Frankreich, ein Spionage-Prozess um den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, war eine Presse-Affäre, die um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert nicht nur Frankreich, sondern Europa und die gesamte sogenannte zivilisierte Welt in Atem hielt. Auch in Luxemburg verhandelte die Presse an diesem Beispiel den gesellschaftlichen Status von Juden und Jüdinnen.

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  • Zeichnung von Henri Meyer erschienen im Le Petit Journal vom 13. janvier 1895 © wikimedia commons.
    Die Degradierung von Dreyfus im Hof der École Militaire (Paris).

Den Anfang der Spionage-Affäre machte 1894 die Verhaftung von Dreyfus wegen Verdachts auf Militärspionage für das Deutsche Reich. Die wenigsten zweifelten an der Schuld des Hauptmanns, der verurteilt und nach Guyana verbannt wurde. Doch 1897 wurde das Urteil in Frage gestellt, als Dreyfus‘ Bruder gegen den – wie sich später herausstellen sollte – tatsächlichen Urheber der Spionageaktivitäten, Major Walsin Esterhazy, Anzeige erstattete. Wenige Tage, nachdem der anschließende Prozess vor einem Militärgericht mit einem Freispruch für Esterhazy geendet hatte, erschien Anfang 1898 Emile Zolas berühmte Anklageschrift „J’accuse“ und löste heftige Polemiken in der Presse und in der Öffentlichkeit aus: Es kam zu antisemitischen Demonstrationen in zahlreichen französischen Städten, jüdische Geschäfte wurden geplündert, Juden und Jüdinnen attackiert.

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Die Affäre erreichte ihren Höhepunkt mit dem Beleg, dass ein wesentliches belastendes Dokument vom Kommandanten Hubert-Joseph Henry fingiert worden war, das sogenannte „Faux Henry“. Henry wurde verhaftet und beging in seiner Zelle Selbstmord. Nun begann die schwierige Rehabilitation von Alfred Dreyfus, der am Ende von allen Vorwürfen freigesprochen wurde.

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In seiner Berichterstattung über die Dreyfus-Affäre übernahm das „Luxemburger Wort“ vor allem Beiträge aus französischen und deutschen konservativen Zeitungen. In diesen Berichten und Kommentaren schrieb man 1900 von einem „Dreyfus-Syndikat“ oder von „Dreyfus-Freunden, die sich bekanntlich unter den Juden, Freimaurern, Radikalen, Sozialisten und Anarchisten rekrutierten“. Daneben ging die Rede vom „Millionär Dreyfus“, von „charakterlosen, mit jüdischem Geld geschmierten Preßlügnern“, vom „Humanitätsgefasel“ und den „Phrasen von Gerechtigkeit und Civilisation“, die in den fortschrittlicheren Blättern zu finden seien. In einzelnen Fällen bemühte das „Wort“ auch ansatzweise das Konzept der Rasse.

So warf es 1900 der sozialdemokratischen Presse vor, sie trete „für den Verräter ein, wie sie ja überhaupt dem Antisemitismus mit der größten Energie entgegentritt, während doch die Bekämpfung einer Rasse, die durch schmutzige Spekulationen Milliarden akkaparierte, den Gegnern des Privateigentums eher sympathisch erscheinen sollte“. Von Oktober 1899 und bis Ende 1901 erschienen auch „Wort“-eigene Kommentare zur Dreyfus-Affäre, erschienen aus der Feder eines „M.“ regelmäßig Kommentare zur Dreyfus-Affäre oder verwandten Ereignissen, die sich durch Konservativismus und Ultramontanismus und Judenfeindlichkeit auszeichnen. „M.“ ergriff klar Partei für den Antisemitismus.

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Man kann aber Antisemit und doch ein guter Katholik sein. Der Antisemitismus richtet sich nicht gegen die Juden als solche, sondern gegen die sog. Mauscheljuden, die im ‚auserwählten Volke‘ in recht vielen Exemplaren, eins abstoßender als das andere, anzutreffen sind. [...]. Nicht religiöse Intoleranz, sondern der Selbsterhaltungstrieb, die Vaterlandsliebe sind die Motive, von denen sich die führenden Männer der antisemitischen Bewegung in Frankreich, Drümont an der Spitze, leiten lassen.

Luxemburger Wort, 1900

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Eine Anrufung des Papstes, in: Luxemburger Wort, 17.11.1900, S. 2-3.

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Zehn Jahre nach dem „Judenprozess“, den doch das „Wort“ verloren hatte, gab es diesmal keinen Prozess. Der Staat nahm seine Aufgabe, für die Wahrung der Verfassungsgrundsätze zu sorgen, hier nicht mehr wahr.

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Entwicklung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts: Wichtigste Elemente

1. Säkularisierung des Judenhasses: Der Antisemitismus, der zunächst vor allem religiös formuliert wurde, wurde immer stärker durch politische und wirtschaftliche „Argumente“ getragen.

2. Entstehen einer rassisch fundierten antisemitischen Theorie: Die Rassentheorie, die sich im 19. Jahrhundert entwickelte, teilte die Menschen in verschiedene Rassen auf. Sie ging von der Überlegenheit der „arischen Rasse“ gegenüber den anderen aus, gerade auch der „semitischen“ Rasse, mit der die Juden und Jüdinnen gemeint waren. Dieser Diskurs war geprägt von Ideen wie jene der Degenerierung der Gesellschaft, die sich in Dekadenz und frivolem Lebenswandel äußern würde ; von der Eugenik, die die Rassen durch Selektion verbessern und reinigen wollte, und von einer biologistischer Darstellung der Bevölkerung als organischer Körper, der von Krankheiten oder Parasiten befallen sei oder dessen wichtigste Gliedmaßen amputiert seien.

3. Verbindung von Antisemitismus mit Nationalismus: In den antisemitischen Darstellungen gehörten Juden und Jüdinnen gehören nicht zur Nation, sondern galten als Fremde, auch wenn sie bereits seit mehreren Generationen im Land war. Ihre Emanzipation und ihre bürgerliche Gleichstellung wurden in Frage gestellt.

4. Entstehen einer organisierten antisemitischen Bewegung: In vielen europäischen Ländern entstanden im 19. Jahrhundert antisemitische Parteien und Vereine. In manchen Vereinen galt ein „Arierparagraf“, d.h., jüdische Menschen durften nicht Mitglied werden. Dies war in Luxemburg nicht der Fall. Dagegen waren zahlreiche Vereine katholisch orientiert, was den Zugang für Menschen anderer Religionen erschwerte.

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Antisemitismus in der Arbeiterbewegung

In vielen europäischen Ländern verband sich bereits im 19. Jahrhundert antikapitalistische Kritik, etwa an industriellen Unternehmern oder Bankiers, stellenweise mit antisemitischen Äußerungen. In Luxemburg dagegen gab es zunächst in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung keine solchen Stimmen. Dies änderte sich im Ersten Weltkrieg vor dem Hintergrund von Krieg, Hunger und Lebensmittelknappheit. Antisemitische Äußerungen wurden nun auch in linken Zeitungen formuliert: Die Figur des galizischen Wucherers und Kettenhändlers fügte sich ein in den antikapitalistischen Diskurs.

Wo liegt Galizien?

Galizien, das Gebiet an den Rändern Russlands, Polens und Österreichs, war seit dem Mittelalter zu einem Zentrum jüdischer Ansiedlung geworden. Die jüdischen Gemeinschaften, die dort durch handwerkliche, gewerbliche und Handels-Tätigkeiten zunächst verhältnismäßigen Wohlstand erreichten, litten ab dem 17. Jahrhundert zunehmend unter Ausgrenzung, Verfolgung und regelrechten Pogromen, die wirtschaftlichen Bedingungen wurden desolat. So nahmen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts um 200.000 galizische Juden und Jüdinnen an den massiven Emigrationsbewegungen nach Westeuropa, Palästina oder Amerika teil.

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Aus dem osteuropäischen Galizien kamen seit dem Ersten Weltkrieg eine ganze Reihe von armen Juden und Jüdinnen nach Luxemburg. Diese Migration trug dazu bei, dass die jüdische Gemeinschaft von 1910 bis 1935 von 1.270 auf 2.274 Personen anwuchs. Ein großer Teil der ostjüdischen Religionsangehörigen arbeitete zunächst in der Stahlindustrie, sie betrieben aber auch Kleinhandel und Hausierhandel oder verkauften auf den Märkten.

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  • © Österreichische Nationalbibliothek
    Galizische Flüchtlinge in Gnilowody (heute Hvardiyske)

Seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs war die Verteilung und Ausfuhr von Gütern, vor allem von Grundnahrungsmitteln, strenger reglementiert worden, solche Bestimmungen förderten allerdings Schmuggel und Hamsterei. All jene, die in den Prozess des Lebensmittelhandels eingebunden waren – Bauern, Fabrikanten, Händler – sahen sich in dieser Situation Vorwürfen von Betrug und überzogenen Preisen ausgesetzt. Neben dem „egoistischen, profitsüchtigen Bauern“ und dem „rücksichtslosen deutschen Soldaten“ wurde dabei der „galizische Betrüger“ im öffentlichen Diskurs eine gängige Figur. Die „Galizier“ wurden beschuldigt, Kettenhandel zu betreiben, d. h., Alltagswaren ­ zum Beispiel Butter oder Seife ­ billig einzukaufen, um sie dann zu überteuerten Preisen wieder zu verkaufen. In zahlreichen Artikeln der Zeit wurden sie als „Parasiten“ und als „Hyänen“ bezeichnet. Diese Stereotypen tauchten auch in linken Zeitungen auf.

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Menschliche Parasiten? Antisemitische Sprache

Wie der Historiker Alexander Bein dargelegt hat, illustriert sich am Begriff des Parasiten, der zu diesem Zeitpunkt bereits stark antisemitisch aufgeladen war, die Biologisierung der Sprache, und zwar seit dem Auftreten des Rassenantisemitismus auch in der sozialistischen, antikapitalistischen Literatur: „Das Bild von den ‚Wirtsvölkern‘, unter denen die Juden leben, gerät immer mehr in den Bann dieser naturalistischen Vorstellungen vom Parasiten und seinem Wirte, [?], von dessen Blut und Lebenssäften er zehrt und den er dadurch schädigt und oft vernichtet. Mit diesen Vorstellungen vereinigen sich nun die antikapitalistischen Neigungen, besonders in die Augen fallend bei manchen Sozialisten [...], aber mitschwingend auch in den Worten vieler anderer Judengegner.“ (aus: Bein, Alexander: „Der jüdische Parasit“. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 13 (1965) 2, 128. )

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Wirtschaftsantisemitismus

Generell war im 19. Jahrhundert der Übergang vom Wanderhandel zum festen Verkaufsstand und schließlich zum Laden zu verzeichnen. Mit diesem Prozess ging einher, dass dem Hausierhandel ein immer schlechterer Ruf anhaftete und sie zumindest in den Städten zunehmend zum Störfaktor wurden. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert richtete sich der Abwehrkampf des Luxemburger Einzelhandels gegen die unliebsame Konkurrenz der neuen Warenhäuser und der Krammärkte. Hinter den meist xenophoben Argumenten versteckten sich auch antisemitische Tendenzen.

 

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Modernistische Architektur

Auch in Luxemburg schrieben die jüdischen Geschäftsfamilien häufig success stories: So geht das heute noch existierende Möbelhaus Bonn zurück auf Moïse Bonn, der, aus Lothringen eingewandert, 1855 ein erstes Geschäft in Stadtgrund eröffnete. Jüdische Geschäftsleute gingen häufig mit der Zeit: Sie gehörten zu den ersten in Luxemburg, die systematisch Werbung betrieben. Auch ihre Schaufenster und ihre Geschäftsarchitektur präsentieren sich oft schon früh in modernem Gewand, wie etwa das 1932 errichtete Gebäude Grünstein Ecke Großgasse und Grabenstraße, mit dem Pelzgeschäft „Fourrures Jenny“. „À la Bourse“ wurde kurz danach neugebaut.

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Wie die christlichen etablierten auch die jüdischen Geschäftsleute feste Läden. Sie fanden sich zunächst vor allem unter den Café-Betreibern, im Möbel- und Manufaktur-, Stoff- und Kleiderhandel wieder. Ein weiterer wichtiger Verkaufszweig, in dem jüdische Händler stark präsent waren, war der Vieh- und Pferdehandel. Angesichts der immer stärkeren Konkurrenz im Einzelhandel kamen 1906 Geschäftsleute aus der Hauptstadt zusammen, um einen Interessensverein zu gründen: die „Union commerciale“. Konkrete Ursache war die Abwehr der entstehenden Einkaufs­kooperativen – wie etwa der „Staatsbeamtenkonsum“ -, aber auch der neuen großen Kaufhäuser. Auch einzelne jüdische Einzelhändler waren in der „Union commerciale“ mit von der Partie.

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  • Der Kongress der Handwerker, in: Escher Tageblatt vom 10. September 1935, S. 9.

Mag man die Kampagnen der Geschäftsleute zunächst noch als Rückzugsgefecht des von modernen Verkaufsformen in Bedrängnis gebrachten traditionellen Einzelhandels betrachten, so spitzte sich dessen Abwehrhaltung bis zum Zweiten Weltkrieg weiter zu. In den zahlreichen Jubiläumsbroschüren und Jahresbroschüren wurde die ausländische Konkurrenz attackiert. Niemals äußerte sich jedoch eine spezifische Ablehnung gegen jüdische Geschäfte. Ein Zeichen dafür, dass religiöse Zugehörigkeit schlicht kein Thema mehr war? Oder transportierten die Klagen gegen – vorzugsweise ausländische – Warenhäuser und Hausierer auch antijüdische Ressentiments?

 

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Der Soziologe Thomas Lenz hat am Beispiel Deutschlands erläutert, wie die Stereotype des „ehrlichen deutschen Kaufmann“ und des „Warenhausjuden“, der durch „tausend Schliche und Kniffe“ den Käufer zu täuschen suche, im Kampf gegen die Warenhäuser eingesetzt wurden.

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Offensichtlicher wurde antisemitisches Ressentiment bei der Diskussion um die Krammärkte. Zwar hatten diese beim Publikum durchaus Erfolg: So hieß es am 21.2.1934 im „Escher Tageblatt“, dass die Arbeiterpartei im Differdinger Gemeinderat eine Verlängerung der Öffnungszeiten des Krammarktes verlange. Doch der örtliche linksliberale Bürgermeister Mark zeigte sich „vom Krammarkt nicht ganz erbaut, weil derselbe von zu vielen polnischen Juden“ befahren werde.

In den 1930er Jahren gab es immer wieder antisemitische Aktionen gegen jüdische Geschäftsleute. 1936 wurden antisemitische Flugblätter in Stadt Luxemburg verbreitet, die u.a. die Aufschrift „Kauft nicht beim Juden“ enthielten. 1938 wurden während der Braderie die Schaufenster jüdischer Geschäfte mit antisemitischen Parolen beschmiert.

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Das Bild des galizischen Wucherers und Kettenhändlers traf sehr schnell auch die etablierte jüdische Gemeinschaft bzw. frischte ihr gegenüber bestehende Vorurteile auf. Dies war umso einfacher, weil viele jüdische Familien, obwohl alteingesessen, aufgrund der strengen Naturalisierungsgesetzgebung nicht die Luxemburger Nationalität besaßen.

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  • © Bundesarchiv, Bild 183-R70355 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0
    Boykott jüdischer Geschäfte in Berlin (1933)

Flucht von verfolgten Menschen oder Bevölkerungsgruppen hat es immer gegeben; als fundamentales Recht gilt Asyl dagegen erst seit der Menschenrechtskonvention von 1948: Doch zwischen 1933 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verließen eine halbe Million Menschen gegen ihren Willen Deutschland, mehr als die Hälfte von ihnen war nach den nationalsozialistischen „Rasse“-Kriterien jüdisch. Auslösende Momente waren der Machtantritt Hitlers Ende Januar 1933, der Anschluss des Saargebiets (in dem sich viele Verfolgte aufhielten), das Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 und schließlich die Ereignisse des Jahres 1938: Anschluss Österreichs im Frühjahr, gescheiterte Konferenz von Évian im Juli, Sudetenkrise ab September, Einführung des Juden-Stempels in Pässen im Oktober, Reichspogromnacht im November. Die Gesetze zur wirtschaftlichen Arisierung ab November 1938 machten das Überleben für „Nicht-Arische“ in Deutschland vollends unmöglich.

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  • Escher Tageblatt vom 21. November 1936, S. 1.
    Die Flüchtlingskrise in einer Karikatur von Albert Simon (1936)

Die erste große Flüchtlingskrise, mit der Luxemburg konfrontiert wurde, wurde in den Dreißigerjahren durch die Ankunft der Verfolgten aus Deutschland ausgelöst. Die Flüchtlinge, die in Luxemburg ankamen ­ unter ihnen viele jüdische Familien ­, versuchten, sich zumindest eine temporäre neue Existenz aufzubauen, indem sie Geschäftshäuser eröffneten. Auf den massiven Druck des Mittelstands hin wurde aber die Erteilung von Handelsgenehmigungen an ausländische Geschäftsleute immer strengeren Regeln unterworfen. Auch andere fremdenfeindliche Maßnahmen trafen die jüdische Minderheit besonders stark, weil der ausländische Anteil an dieser Gruppe stetig zunahm: 1935 stellten von insgesamt 3144 jüdischen Glaubensangehörigen die Luxemburger nur 871, also knapp 28%.

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Bereits am 29. März 1933 informierte Vizekonsul Sturm das Luxemburger Außenministerium über die Konsequenzen des angekündigten nationalsozialistischen Boykotts gegen jüdische Geschäfte, liberale Berufe und Staatsbedienstete in Deutschland: „Wahrscheinlich werden sich viele Auswanderungsbedürftige nach den westeuropäischen Ländern orientieren [...].“ Daraufhin informierte Außenminister Bech die Luxemburger Konsulate in Deutschland, die Regierung lasse die Frage prüfen, „ob und wie gegebenenfalls einem unerwünschten Zustrom von ausländischen Israeliten zu begegnen ist“. Er wies die Polizei an, wie mit „politischen Flüchtlingen, vorwiegend Juden, welche zurzeit besonders aus Deutschland ins Großherzogtum einreisen“ zu verfahren sei. All jene, die keine Existenzmittel sowie eine Unterkunft bei Verwandten nachweisen könnten oder nur vorübergehend in Luxemburg zu bleiben beabsichtigten, sollten in ein Nachbarland „ihrer Wahl“ abgeschoben werden.

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Im Naturalisierungsgesetz wurde 1934 die Verdoppelung der bis dahin geltenden minimalen Residenzdauer von fünf Jahren für die Naturalisierung, die Einführung bzw. Erhöhung von Taxen bei Pässen, Naturalisierungen, Optionen und Aufenthaltsgenehmigungen sowie die Einführung einer Fremdenkarte vor eingeführt. Nach 1935 erfolgten bis zum Krieg keine Naturalisierungen mehr.

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Im Dezember 1933 schrieb Bech als Unterrichtsminister an das Inspektorenkollegium der Primärschulen, die Regierung sei mit Anfragen zu Plänen befasst worden, in Luxemburg Internate für schulpflichtige jüdische Kinder aus Deutschland einzurichten, deren Eltern weiterhin dort lebten. Solche Internate hätten es diesen Kindern ermöglicht, die Luxemburger Primärschulen zu besuchen. „J’ai cru devoir me prononcer contre l’autorisation sollicitée“, schrieb Bech. Ausländische Kinder, deren Eltern im Ausland lebten, wurden nun nur noch in den Schulen zugelassen, wenn eine formelle Genehmigung der Gemeindeverwaltung und die Zustimmung der Regierung in Betracht zu ziehen sei.

So reichte die Stadt Luxemburg für das Schuljahr 1937-38 eine Liste von 30 Kindern ein, von denen etwa ein Drittel – aufgrund ihres Namens – als jüdisch einzustufen ist. Soweit ersichtlich, wurde keines von ihnen abgelehnt. Doch die Grundhaltung der Regierung gegenüber den jüdischen Flüchtlingen tendierte zu einer Abschottungspolitik. Anders als das ebenfalls neutrale Belgien unterschrieb Luxemburg auch nicht die internationalen Flüchtlingskonventionen von 1933 und 1936.

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Unter Justizministers René Blum wurde Luxemburg 1938 mit einem Flüchtlingszustrom ungekannten Ausmaßes konfrontiert. Ursache war, dass die Gestapo nach dem Anschluss Österreichs am 11./12. März 1938 und der durch ihn ausgelösten Fluchtbewegung begann, Flüchtlinge systematisch aus Deutschland abzuschieben; dies geschah vor allem an der schweizerischen, französischen und luxemburgischen Grenze.

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Ende Mai 1938 schob die Gestapo 54 jüdisch-österreichische Flüchtlinge nach Luxemburg und weitere nach Frankreich und Belgien ab. Die jüdischen Flüchtlinge wurden in einer großangelegten Aktion „nach ihrem Heimatlande, von wo sie gekommen, zurückgeschoben“. Die Abschiebung erregte einiges Aufsehen. Der belgische Gesandte Kervyn de Meerendré schilderte die Luxemburger Ereignisse in einem Bericht folgendermaßen: „Le lieutenant Dieudonné, qui commandait le détachement, m’a confirmé les scènes pénibles auxquelles cette mesure a donné lieu […] ; c’est à grand peine que les soldats luxembourgeois ont pu empêcher des suicides parmi les réfugiés, dont l’un notamment était arrivé à s’entailler le poignet avec une lame de rasoir, tandis qu’un autre se lançait dans la Moselle. [...] C’était la crainte du camp de concentration, disaient-ils, qui leur dictait cette conduite.“

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Die Luxemburger Regierung war nicht bereit, Geld für die Flüchtlingsbetreuung zur Verfügung zu stellen. Während in Belgien die zahlreichen Hilfsorganisationen dem Staat wenigstens kleinere Summen abrangen, erachtete man in Luxemburg die Finanzierung der Flüchtlingshilfe als Aufgabe des jüdischen Hilfskomitees Esra. Diese Organisation stand in Luxemburg fast allein, ansonsten gab es fast nur im kommunistischen Milieu, in Gestalt der „Roten Hilfe“, organisierte Solidarität, die auch jüdischen Genossen und Genossinnen zugutekam. Auf katholischer Seite begann schließlich die „Caritas“, auch nicht-christlichen Flüchtlingen zu helfen.

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Blieben die Flüchtlinge nur für kurze Zeit und wurden die Kosten ihres Aufenthalts von anderen getragen, war Justizminister Blum durchaus zu Bekundungen konkreter Solidarität bereit. Während der Sudetenkrise gewährte auch Luxemburg dreihundert Flüchtlingen eine temporäre Aufenthaltserlaubnis von drei Monaten. Doch zugleich waren die Luxemburger Grenzen geschlossen worden. Dies hielt aber die Flüchtlinge nicht davon ab, zu versuchen, sich nach Luxemburg durchzuschlagen. Teilweise kamen sie auch unter dem Zwang der Gestapo über die Grenze.

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„Werden die Flüchtlinge an den Übergangsstrassen oder an den Bahn-Grenzstationen von den luxemburgischen Kontrollorganen nach Deutschland zurückgewiesen, so werden sie von der Gestapo gesammelt, um während der Nacht im Nachen über die Grenze gesetzt zu werden. […] Andere Flüchtlinge werden in den Bremserstand, in die Hundeverschläge, auf das Verdeck oder auf die Achsen der Eisenbahnwagen versteckt um ungesehen über die luxemburgische Grenze gebracht zu werden.

Abgehetzt wie wilde Tiere, vollständig entkräftet und dem Zusammenbruch nahe, treffen diese Flüchtlinge, obschon mehrmals an der luxemburgischen Grenze zurückgewiesen, mitleiderregend in Luxemburg-Stadt ein, wo sie in voller Verzweiflung bei ihren Glaubensgenossen Schutz und Hilfe suchen.“

Bericht des Luxemburger „Öffentlichen Sicherheitsdienstes“ vom 1.9.1938, ANLUX, J-073-47.

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Wenige Wochen später gab das Justizministerium Order, den abzuschiebenden Flüchtlingen sei ein Vermerk in den Ausweis einzutragen, um zu verhindern, dass sie auf legalem Weg ein zweites Mal die Einreise versuchten. Vom Moment seiner Einführung Anfang Oktober 1938 an galt der Juden-Stempel in deutschen Pässen in Luxemburg als inoffizielles Kriterium. Justizminister Blum behauptete aber besonders bei öffentlichen Auftritten, dass die Luxemburger Regierung eine flüchtlingsfreundliche Politik betreibe.

So äußerte er sich laut „Tageblatt“ auf dem Parteitag der Arbeiterpartei vom 4.11.1938 folgendermaßen: „Die Menschlichkeit ist unser höchstes Prinzip: gegenüber dem Auslande sind wir als Nation die menschlichste. Aber alles hat seine Grenzen. Wir hätten heute ganz Wien und halb Prag hier. Aber leider müssen wir im Interesse unsers Landes der Einwanderung Grenzen setzen.“

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Antisemitismus der Dreißigerjahre

 

Das politische Klima der 1930er Jahre war durch bestimmte Phänomene bestimmt: ­Autoritäre Tendenzen: Die Regierung nahm immer häufiger Beschlüsse, die nicht durch das Parlament angenommen wurden, sondern aufgrund von sogenannten „Regierungsvollmachten“. ­Es kam zu Maßnahmen, um die Kommunistische Partei zu verbieten. Das sogenannte „Maulkorbgesetz“ wurde 1937 vom Parlament gestimmt, aber in einem Referendum von der Wählerschaft abgelehnt. ­Die Ausländer­ und Naturalisierungspolitik wurde sehr viel strenger und die Einbürgerungsprozedur wurde blockiert. ­Es kam aufgrund der Weltwirtschaftskrise zu massiven Ausweisungen ausländischer Arbeiter*innen.

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Im Exilland Luxemburg prägten Überfremdungsdiskurse die Mehrheitsgesellschaft, die sich auch gegen die jüdischen Flüchtlinge richteten. In Verbindung mit bestehenden wirtschaftlichen Konkurrenzängsten speiste die gängige Darstellung einer freiwilligen jüdischen Emigration aus Hitler-Deutschland solche Ressentiments. ­Es wurde einer Luxemburger „Volksgemeinschaft“ das Wort geredet, die sich auf christliche Werte und auf eine Luxemburger Abstammung bezog. ­Es gab zumindest Versuche der Rechtspartei, das Modell einer berufsständischen Ordnung auf Basis eines christlichen Staates umzusetzen.

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­Im Exilland Luxemburg prägten Überfremdungsdiskurse die Mehrheitsgesellschaft, die sich auch gegen die jüdischen Flüchtlinge richteten. In Verbindung mit bestehenden wirtschaftlichen Konkurrenzängsten speiste die gängige Darstellung einer freiwilligen jüdischen Emigration aus Hitler-Deutschland solche Ressentiments. ­Es wurde einer Luxemburger „Volksgemeinschaft“ das Wort geredet, die sich auf christliche Werte und auf eine Luxemburger Abstammung bezog. ­Es gab zumindest Versuche der Rechtspartei, das Modell einer berufsständischen Ordnung auf Basis eines christlichen Staates umzusetzen.

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Vor allem der „Wort“­Redakteur und Priester Jean Baptiste Esch zeichnete in seinen Artikeln ein Weltbild, in dem die verschiedenen Religionen und Kulturen nicht, wie in der Luxemburger Verfassung festgehalten, gleichberechtigt nebeneinanderstanden. In seinen Augen gab es eine von einer rassisch oder völkisch definierten Minderheit wirtschaftlich und kulturell bedrohte Mehrheit, die sich verteidigen musste. Esch äußerte auch seine Zustimmung zum österreichischen Modell, das die Einschränkung des Anteils an Juden und Jüdinnen in verschiedenen Berufen vorsah. Kritik an solchen Tendenzen äußerte sich vor allem in der linken Presse, die vor den Entwicklungen des Nationalsozialismus warnte. Die katholische Presse lehnte diesen erst deutlicher ab, als die Kirche in Deutschland selbst zum Ziel der NS ­Verfolgung wurde.

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Bereits bevor deutsche Truppen Luxemburg besetzten, verließen eine Reihe jüdischer Familien das Land, manche flüchteten dagegen im Rahmen der Evakuierung der Minette­Region. Andere meinten, in Luxemburg seien sie sicher. Doch nachdem mit Gauleiter Gustav Simon im August 1940 die Militärverwaltung durch eine Zivilverwaltung ersetzt worden war, wurde zunächst eine „Judenzählung“ organisiert, die von Luxemburger Lokalpolizisten durchgeführt wurde. Im September wurden die ersten „Judenverordnungen“ veröffentlicht: Sie hielten zum Beispiel Berufsverbote, Schulverbot, „Arisierung“ von Betrieben, Blockieren von Geldkonten oder Enteignung fest.

 

Zunächst bestand die nationalsozialistische Politik darin, die jüdischen Menschen nach West- und Südwesteuropa abzuschieben. Diese Politik nutzte der jüdische Konsistorialrat, um so viele Menschen wie möglich nach Frankreich und bis nach Portugal zu schleusen. Bis Oktober 1941 konnten so oder durch eigene Initiative 3.000 Leute fortkommen. Damit waren sie jedoch noch nicht gerettet: Aus Frankreich und Belgien wurden fast so viele jüdische Menschen aus Luxemburg deportiert wie direkt von Luxemburg aus.

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    Kloster von Fünfbrunnen (2013)
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    Aufmarsch vor der Synagoge in Luxemburg Stadt während der deutschen Besatzung

Im Sommer 1941 wurde auf nationalsozialistischen Befehl das Kloster Fünfbrunnen im Ösling als Sammellager eingerichtet. Ab Oktober 1941 fuhren die ersten „Polentransporte“ nach den Ghettos und Konzentrationslager in Osteuropa. Während in den Ghettos die meisten Menschen an Hunger oder Krankheit starben, wurden sie in den Konzentrationslagern aktiv umgebracht oder starben durch physische Erschöpfung aufgrund von Zwangsarbeit.

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Solidarität mit Juden und Jüdinnen im Zweiten Weltkrieg?

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Luxemburg wurden nicht nur Juden und Jüdinnen aus dem Land gewiesen; auch jüdische Geschäfte und Firmen wurden geschlossen oder „arisiert“. Manche nicht-jüdischen Geschäftsleute versuchten, das Eigentum von jüdischen Bekannten oder GeschäftspartnerInnen zu schützen. Aber es gab auch Untersuchungsfälle zur Übernahme arisierter Betriebe durch nicht-jüdische Geschäftsleute. Anders als in Frankreich und Belgien wurden in Luxemburg nur eine Handvoll Juden und Jüdinnen versteckt. Besonders hervorzustreichen ist in diesem Kontext die geringe Zahl an in Luxemburg versteckten oder aus Luxemburg geretteten Kindern. Dies sticht umso mehr heraus, da in nächster Nähe Netzwerke zu diesem Zweck bestanden, z. B. in Metz oder in Lüttich. Zwar berichteten einzelne jüdische ZeitzeugInnen über Unterstützung von Seiten der Kirche. Es entstanden aber keine Formen organisierter Hilfe, wie sie sich gegenüber den „Réfractaires“ zeigte.

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Der Historiker Bob Moore hat betreffend die Überlebenschancen jüdischer Verfolgter aufgezeigt, dass die Haltung wichtiger Persönlichkeiten ein Mobilisierungsfaktor war, wenn es um Hilfe für jüdische Verfolgte ging. Neben fehlenden Rollenmodellen trugen die antisemitischen Stereotype, die in der Gesellschaft präsent waren, trugen wohl dazu bei, dass sich die Hilfsbereitschaft nicht stark entwickelte, besonders, wenn es sich um ausländische Menschen handelte.

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs organisierte die Luxemburger Regierung verschiedene Maßnahmen im Bereich der Epuration und der gerichtlichen Verfolgung von Tätern und Täterinnen sowie der Entschädigungspolitik für jene, die Schaden erlitten hatten. Dabei wurde zunächst nicht spezifisch anerkannt, dass es eine gezielte nationalsozialistische „Judenpolitik“ gegeben hatte.

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Die Epuration („Säuberung“), bei der nach dem Krieg zahlreiche Menschen betreffend ihre Haltung zum Besatzer überprüft wurden, visierte lediglich allgemein wirtschaftliche oder politische Kollaboration. So wurde der hohe Beamte Louis Simmer, der 1940 ein Schulverbot für jüdische Kinder umsetzen ließ, nicht deswegen sanktioniert, sondern weil er das Schulpersonal nicht genügend gegen sogenannte „NS­ Schulungen“ (Indoktrinierungen) geschützt hatte. ­Es wurden keine spezifischen Gesetze geschaffen, um antisemitisch motivierte Verbrechen zu ahnden. ­Die Entschädigungspolitik richtete sich nur an Personen luxemburgischer Nationalität, ¾ der jüdischen Bevölkerung waren aber ausländisch gewesen. Zudem wurden nicht die Opfer des Krieges entschädigt, sondern jene, die Widerstandsakte gegen das NS­Regime begangen hatten. Dies war aber für jüdische Verfolgte meist nicht möglich gewesen.

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In den Fünfzigerjahren kam es in Luxemburg zu Protesten der ehemaligen „Zwangsrekrutierten“, also jener Männer, die gezwungen worden waren, in der deutschen Wehrmacht zu kämpfen. Ein großer Streit entstand in der Luxemburger Gesellschaft darüber, ob sie entschädigt werden müssten oder nicht. Dadurch geriet das Schicksal der jüdischen Verfolgten noch weiter in den Hintergrund.

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Während kurz vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 3.900 jüdische Menschen in Luxemburg gelebt hatten, waren es 1947 nur noch 870. Fast alle gehörten zur großen Gruppe der RückkehrerInnen, die ihre Kriegserfahrungen im Ausland gemacht hatten. Die jüdischen Familien kehrten in eine Gesellschaft zurück, in der der Vorkriegs-Antisemitismus weiterbestand und der Krieg zu neuen Ressentiments geführt hatte. Die Kunde von der national-sozialistischen „Judenpolitik“, d.h. der systematischen Verfolgung und Ermordung, wurde vor allem von den Rückkehrer*innen aus den Konzentrationslagern verbreitet.

Das Schicksal der in Luxemburg verbliebenen Juden und Jüdinnen, die zunächst durch die Judenverordnungen ihrer Existenzmöglichkeiten beraubt, dann entweder auf direktem Wege oder vom sogenannten „Altersheim“ Fünfbrunnen aus deportiert worden waren, wurde dagegen wenig thematisiert. So bildete sich in Luxemburg nur langsam ein Bewusstsein der Spezifizität und der Dimension der nationalsozialistischen „Judenpolitik“.

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    Das Tagebuch der Anne Frank (dt. Erstausgabe)
  • Adolf Eichmann in Uniform (1942)
  •  © https://www.notrecinema.com/communaute/v1_detail_film.php3?lefilm=8550
    Filmposter der Dokumentation "Le chagrin et la pitié" von Marcel Ophüls (1969)

Zugleich gab es aber auch Anzeichen einer neuen Begeisterung für Pluralismus und Humanismus. In den Zeitungen der Nachkriegszeit erkennt man zudem gegenüber der Vorkriegszeit eine weit stärkere Zurückhaltung, was öffentliche antisemitische Äußerungen angeht. Die folgende Feststellung des Historikers Pieter Lagrou zur Nachkriegszeit gilt sicher auch für Luxemburg: „If antisemitism had not disappeared, it had become anathema to all major political creeds prevalent in post-war Europe.

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Zu einem fundamentaleren Wandel im Verständnis der Shoah kam es, wie überall in Europa, erst ab Ende der 1950er Jahre. Einschneidende Momente, die international zu einer Bewusstseinswerdung über die Shoah beitrugen, waren z. B.: -Die Veröffentlichung des Anne-Frank-Tagebuch, das 1950 erstmals auf Französisch und Deutsch erschien; -Der Eichmann-Prozess 1961; -Das Zweite Vatikanische Konzil und die Erklärung „Nostra Aetate“ von 1965; -Filme wie der französisch-schweizerische Dokumentarfilm „Le chagrin et la pitié“ des Regisseurs Marcel Ophüls von 1971.

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    Der Eichmann-Prozess

Die großen Gerichtsverfahren

In der Nachkriegszeit kam es in Luxemburg zu einer Reihe von Gerichtsverfahren, unter denen der große Kriegsverbrecherprozess von 1949-50 gegen deutsche Täter herausragte. In diesem waren auch die Judendeportationen und die Aneignung jüdischen Vermögens Punkte der Anklage, und es traten jüdische Überlebende als Zeugen auf. In einem deutschen Ermittlungsverfahren in den Sechzigerjahren kamen ebenfalls die Judendeportationen in Luxemburg zur Sprache und wurden Luxemburger Zeugen und Zeuginnen gehört. Allerdings konnte aufgrund der deutschen Verjährungsregelungen zu diesem Zeitpunkt nur noch der Straftatbestand Mord bzw. Beihilfe zum Mord behandelt werden. Weil die ehemaligen Gestapo-Leute aber allesamt leugneten, von der Ermordungspolitik in den Konzentrationslagern gewusst zu haben, war die Möglichkeit, Täter zu überführen, gering.

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Der Prozess, der 1960-61 Adolf Eichmann, dem ehemaligen Verantwortlichen für „Juden- und Räumungsangelegenheiten“ im „Reichssicherheitshauptamt“, in Jerusalem gemacht wurde, endete dagegen mit dem Todesurteil und seiner Vollstreckung. Der Prozess war in den Medien äußerst präsent, denn bereits das Aufspüren Eichmanns in Argentinien und seine Entführung nach Israel hatte internationales Aufsehen erregt. Dass der „Eichmann-Prozess“ auch Luxemburg direkt tangierte, war zunächst wohl den wenigsten im Großherzogtum bewusst. Bereits im Luxemburger Kriegsverbrecherprozess jedoch hatte Otto Schmalz, seinerzeit der Gestapo-„Judensachbearbeiter“ in Luxemburg, betont, die Deportationsbefehle seien in den allermeisten Fällen vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) gekommen und von Eichmann unterschrieben worden.

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Zwei Männer, die die nationalsozialistische Judenpolitik in Luxemburg als Vertreter der Kultusgemeinde aus nächster Nähe miterlebt hatten, Robert Serebrenik und Alfred Oppenheimer, gaben schließlich im Eichmann-Prozess eidesstattliche Erklärungen ab. Der ehemalige Großrabbiner von Luxemburg, Serebrenik, beschrieb in seiner Erklärung von seiner neuen Heimat New York aus, wie er Ende März 1941 zu Eichmann nach Berlin zitiert wurde. Eichmann habe bei dem Treffen von ihm verlangt, möglichst schnell „his Jews“ aus Luxemburg wegzuschaffen, denn er, Eichmann, werde in Kürze die Tür „for all legal and illegal emigration“ schließen, und dann gebe es für eine Emigration keine Notwendigkeit mehr.

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Anders als Serebrenik reiste der ehemalige „Judenälteste“ Alfred Oppenheimer 1960 nach Jerusalem und nahm persönlich am Eichmann-Prozess teil. Er schilderte dort, wie im Oktober 1941, einen Tag nach der letzten von der Gestapo genehmigten kollektiven Ausreise nach Westen, die erste der Deportationen in die Ghettos und Konzentrationslager in Osteuropa erfolgte. Ab diesem Zeitpunkt übernahm Oppenheimer die Führung der noch verbliebenen Kultusgemeinde. In Oppenheimers schriftlicher und mündlicher Erklärung ging es um die Judenverordnungen, die Lage in Fünfbrunnen, den Ablauf der Transporte von Oktober 1941 bis September 1943: „Massendeportationen fanden jeweils auf Befehl des Reichssicherheitshauptamts regelmäßig statt, teilweise nach Theresienstadt, teilweise nach Polen.“ Zuletzt berichtete er auch über seine eigene Deportation im Juli 1942, die ihn nach Theresienstadt und Auschwitz brachte.

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Das Auftreten von Zeuginnen und Zeugen, die aus der ganzen Welt anreisten, steigerte die öffentliche Aufmerksamkeit und auch den Stellenwert der Aussagen von Betroffenen. Der Eichmann-Prozess bewirkte aber auch allgemeiner, dass sich der Stellenwert der jüdischen Verfolgung in der öffentlichen Sicht auf den Zweiten Weltkrieg änderte. Annette Wieviorka bezeichnet den Eichmann-Prozess als „un véritable tournant dans l’émergence de la mémoire du génocide“. In Luxemburg fand der Eichmann-Prozess seinen Niederschlag in Luxemburg vielleicht stärker auf Umwegen, über die internationale Presse, durch Literaturerzeugnisse und Filme. Konkret manifestierte er sich vor allem in der 1965 erfolgten Gründung eines neuen Vereins, der „Amicale des Rescapés et des familles de disparus d’Auschwitz“.

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1966 formierte sich die Initiative für eine Gedenktafel in Fünfbrunnen. Am 6. Juli 1969 wurde das Monument im Beisein von Großherzog Jean, Innenminister Schaus und zahlreichen anderen nationalen und internationalen Persönlichkeiten eingeweiht. In der Zeitschrift „Revue“ hieß es später, Tausende hätten an der Einweihung teilgenommen. 1967 wurde der Verein auch politisch aktiv, indem er sich an der Diskussion um das Gesetz zur Anerkennung und Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus beteiligte.

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Die offizielle Kirche

 

Als Bischof Philippe am 25. September 1944 ein Bischofswort zur Befreiung an die Luxemburger Bevölkerung richtete, sprach er über das reine Luxemburger Blut, das in den Adern der Luxemburger Helden des Generalstreiks geflossen sei. Die jüdische Verfolgung wurde nicht erwähnt, ebenso wenig wie der nicht-christliche Widerstand. In einem der Berichte von Bischof Philippe an den Vatikan während des Zweiten Weltkriegs bemerkte Philippe, dass die letzten Juden und Jüdinnen das Land verlassen hätten. „C’étaient surtout des vieillards, des infirmes et des malades qui ont été chargés à destination inconnue dans des fourgons à bestiaux. Si l’un ou l’autre juif a pu rester, c’est grâce à un mariage chrétien, mais l’intéressé est soumis à des mesures de restriction.“

 

 

Dagegen schwieg Philippe, der stets mehrere Seiten seines Berichtes der Schulproblematik widmete, über den Ausschluss der jüdischen Schulkinder. Bedeutsam ist auch, dass die Kirche durchaus Einspruch gegen eine Reihe von Maßnahmen der deutschen Behörden erhob, die aber alle Einschränkungen für die Kirche selbst betrafen.

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Der „Kirchliche Anzeiger“, das offizielle Organ des Bistums, äußerte sich zunächst nicht zur jüdischen Verfolgung oder auch zur jüdischen Religion. Dennoch veränderte sich der Stellenwert der jüdischen Religion im katholischen Weltbild allmählich. Zur gleichen Zeit strebten andere Reformer*innen in Deutschland und in der Schweiz aber bereits einen viel weitergehenden religiösen Pluralismus an. Vor allem mit der Unterstützung von Papst Johannes XXIII., der 1958 sein Pontifikat begann, entstand ein neues Verständnis des Judentums, das vor der Shoah undenkbar gewesen wäre.

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    Zweites vatikanische Konzil (1962)

Beim Zweiten Vatikanischen Konzil ging es zunächst vor allem um die rein christliche Ökumene. Zwar wurde 1964 im Kirchlichen Anzeiger das Rundschreiben „Ecclesiam Suam“ von Paul VI. über die „Wege der Kirche“ abgedruckt, in dem der Dialog mit dem jüdischen Volk, „dem unsere Zuneigung und Achtung gilt“, genauso erwähnt wie jener mit dem Islam, ansonsten aber gab es kaum Auseinandersetzungen mit dieser Wende. Erst die Erklärung „Nostra Aetate“ von 1965, die vom Konzil vorbereitet worden war, hielt in Artikel 4 diesen Wandel fest: Die Kirche beklage „alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben.“

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Einen spezifischen Aspekt der Darstellung des Judentums in der kirchlichen Praxis, die Karfreitagsliturgie, hat der Historiker Hubert Wolf untersucht. Die achte Fürbitte des „Allgemeinen Gebets“ lautete: „Lasset uns auch beten für die treulosen Juden, dass Gott, unser Herr, wegnehme den Schleier von ihren Herzen, auf dass auch sie erkennen unsern Herrn Jesus Christus.“ Anders als bei den vorhergehenden Fürbitten, bei denen jeweils eine kollektive Kniebeugung der Gläubigen folgte, wurde diese Übung hier unterlassen, „um nicht das Andenken an die Schmach zu erneuern, mit der die Juden um diese Stunde den Heiland durch Kniebeugungen verhöhnten“. 1959 ließ Papst Johannes XXIII. den Ausdruck „perfidis“ in einer von ihm gehaltenen Freitagsliturgie weg und sprach allein von „Judæis“. Ab 1960 war diese Fassung generell verbindlich. Das Beten für die Konversion der jüdischen Menschen wurde erst in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils abgeschafft.

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In Luxemburg setzten die neuen Entwicklungen erst nach „Nostra Aetate“ an. Auch die offizielle Entschuldigung der Luxemburger Kirche von 2000 erfolgte auf die Aufforderung des Papstes an die Katholiken und Katholikinnen hin. Der Text der Entschuldigungsbitte der Luxemburger Kirche ist dennoch ein Dokument, das in vielen Punkten die Rolle der Kirche offen benennt. Auch die Rolle der katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg wurde in Frage gestellt: Man müsse feststellen, dass die Kirche in dieser Zeit zwar eine Säule des internen Widerstands gegen die deutsche Besatzung gewesen sei, dies aber nicht für die jüdischen MitbürgerInnen galt. Der enorme gesellschaftliche Einfluss der katholischen Kirche in dieser Epoche, der besondere Anspruch des Christentums an sich selbst, wie er etwa im christlichen Grundwert der Nächstenliebe sichtbar wird, oder der katholische Anspruch auf eine gesellschaftliche Vorbildrolle werden in diesem Kontext nicht angesprochen. Die öffentliche Entschuldigung der Kirche fügt sich dennoch in den gesamten Prozess der Entspannung der Beziehungen zwischen katholischer und jüdischer Religionsgemeinschaft ein.

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  • Mahnmal zur jüdischen Verfolgung in Fünfbrunnen, nach einem Entwurf von Lucien Wercollier, 1969 eingeweiht © wikimedia commons (GFD)
  • © wikimedia commons CCO 1.0
    Pierre Grégoire (1967)
  • © Reiner Wierick, Universitätsarchiv Mainz
    Joseph Adam Lortz

Katholische Haltung zu Judentum und Shoah nach dem Zweiten Weltkrieg

Fragt man danach, wie sich das katholische Milieu Luxemburgs zum Umgang mit Judentum, Antisemitismus und katholischer Unterstützung des Nationalsozialismus stellte, so lässt sich ein allmähliches Abrücken von antimodernistischen Tendenzen feststellen, aber auch eine offensichtlicher werdende Zersplitterung der Positionen gegenüber dem Judentum. Beim „Luxemburger Wort“ geißelte der KZ-Rückkehrer Pierre Grégoire die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden und Jüdinnen. Im „Wort“ fanden sich auch Beiträge, in denen die großen Religionen gemeinsam als Garant für Menschenrechte dargestellt wurden. Daneben erhielt sich im „Luxemburger Wort“ aber die Tendenz, über internationale katholische Würdenträger und Autoren, die sich vor oder während des Krieges kompromittiert hatten, unkritisch zu berichten, so zum Beispiel über den heftigst antisemitischen Publizisten Josef Eberle.

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Besonders sticht der Umgang mit dem Luxemburger Kirchenhistoriker Joseph Lortz hervor. Lortz, der sich vor dem Krieg in den Kreisen des deutschen Rechtskatholizismus bewegte, hatte mehrere Schriften zugunsten eines Brückenschlags zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus verfasst. Im „Luxemburger Wort“ erschienen dennoch in der Nachkriegszeit positive Rezensionen zu Lortz’ Werken über ein „christliches Abendland“, und der Autor wurde als „großer Landsmann“ gefeiert.

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Gedenkfeier an den Holocaust im Kloster Fünfbrunnen
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Nachdem in Frankreich in den 1990er Jahre, in Belgien nach der Jahrtausendwende offizielle Berichte zur Haltung der jeweiligen Behörden während des Zweiten Weltkriegs entstanden, kam es in diesen Ländern zu offiziellen Entschuldigungen gegenüber Juden und Jüdinnen. In Luxemburg wurde erst im Jahr 2000, und zwar auf Initiative des sozialistischen Abgeordneten Ben Fayot, die „Commission spéciale pour l’étude des spoliations des biens juifs au Luxembourg pendant les années de guerre 1940-1945” eingesetzt, die die bisherige Entschädigungs- und Erinnerungspolitik untersuchen sollte. Der 2009 abgeschlossene Bericht der Kommission bietet erstmals eine präzisere quantitative Darstellung der Shoah in Luxemburg.

Er erklärt auch die rechtlichen und politischen Vorgänge der nationalsozialistischen Arisierung in Luxemburg. Zur Entschädigungspolitik des Luxemburger Staates zeigen die Autoren auf, dass die ausländischen Juden und Jüdinnen von dieser Politik ausgeschlossen worden waren. Später wurde der Historiker Vincent Artuso einer Recherche zum Verhalten der Luxemburger Behörden gegenüber der nationalsozialistischen Judenverfolgung beauftragt, die er mit seinem 2015 publizierten Bericht abschloss. Im Januar 2016 wurde der Bericht im Luxemburger Parlament debattiert. Im Rahmen dieser Debatte präsentierte die Regierung eine offizielle Entschuldigung an die jüdische Gemeinschaft in Luxemburg.

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    Synagoge in Luxemburg Stadt (seit 1953)
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    Synagoge in Esch/Alzette (seit 1954)

Luxemburgs jüdische Minderheit heute

Die nationalsozialistische Verfolgungs- und Ermordungspolitik führte zu einer Dezimierung der jüdischen Minderheit, von der sie sich bis heute nicht erholt hat: Die letzten offiziellen Zahlen von 1970, die 710 Angehörige des jüdischen Glaubens festhielten, gingen nicht über den Stand von 1880 hinaus. Zugleich steigerte sich die Gesamtbevölkerungszahl in der Zeitspanne von 1880 bis 1970 von 209.570 auf 339.812, wuchs also um über 62 Prozentpunkte. Die soziokulturellen Veränderungen, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg spürbar waren, die Luxemburger Gesellschaft aber besonders seit den Sechzigerjahren geprägt haben, erfassten auch die jüdische Minderheit. Die zunehmenden Phänomene von Immigration und grenzüberschreitender geografischer Mobilität sowie der strukturelle Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft schlugen sich auf ihre Zusammensetzung nieder.

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Die heutige jüdische Minderheit ist mitgeprägt von exogenen Phänomenen wie der Emigration aufgrund von Bedrohungen der jüdischen Minderheit im Nahen Osten, aber auch Luxemburg-spezifischen Faktoren wie der Entwicklung des Sitzes der Europäischen Institutionen und des Bankensektors. Das berufliche Profil der Juden und Jüdinnen veränderte sich ebenfalls stark: Die zentrale Stellung des Handels machte einer Diversifizierung Platz, liberale Berufe ebenso wie die Anstellung beim Staat oder im Bankensektor haben zugenommen. Auf religiöser Ebene gibt es gegenüber den 1933 noch neun lokalen jüdischen Gemeinschaften heute nur noch zwei, eine konservativere in Luxemburg-Stadt und eine liberalere in Esch.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Antisemitismus nicht verschwunden, sondern hat sich weiterentwickelt bzw. neue Formen angenommen. Auffallend ist, dass er sich im Gegensatz zur Vorkriegszeit weit stärker auch in der politischen Linken äußert. In Luxemburg schrieb zum Beispiel der Geschichtslehrer Pierre Biermann 1965 in einem unveröffentlichten Manuskript, er erkenne an der historischen Haltung des Judentums „Verantwortlichkeiten“ für das „grausige Geschehen“ der „unmenschlichsten Judenverfolgung der Weltgeschichte“.

Später schrieb er von einem „psychologischen Zwangsmechanismus“ den das „klassenegoistisch bedingte, rassisch begründete, aber religiös formulierte und unterbaute Verhalten der Juden bis auf den heutigen Tag bei den Nachbar- oder Gastvölkern in ständiger Wechselwirkung“ auslöse. Da der Antisemitismus aber als ein Attribut der politischen Rechten angesehen wurde, geriet linker Antisemitismus bislang selten in den Fokus der Wissenschaft.

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Auch in Luxemburg finden sich heute wieder verstärkt offen antisemitische Äußerungen, in denen alte Ressentiments und Vorurteile benutzt werden, zum Beispiel in den sozialen Medien. 2015 wurde auch in Luxemburg ein Buch veröffentlicht, indem die historische Tatsache der Shoah zumindest in Frage gestellt wird. Auch wenn es um problematische Traditionen geht, gibt es bei manchen wenig Einsicht, dass solche Bräuche in Frage zu stellen sind.

So kam es vor einigen Jahrzehnten beim Abdruck von alten anti­jüdischen Schimpfwörtern im Luxemburger Wörterbuch zu einem heftigen öffentlichen Streit. Erst vor wenigen Jahren begann man sich Gedanken zu machen über das Singen einer antisemitischen Strophe in einem alten Kehrreim zum alljährlichen Umzug zum St.-Martinstag in Vianden.

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Antisemitismus: 10 Indikatoren

1. Es werden negative historische Bezüge zur jüdischen Geschichte, Religion oder einem angeblich unwandelbaren „jüdischen Charakter“ konstruiert (z.B. „jüdischer Rachegott“ oder „Affinität der Juden zu Geld oder Kapital“).

2. Es wird behauptet, „die Juden“ hätten hierzulande oder auch weltweit zu viel Einfluss (z.B. die „jüdische Lobby“ bestimme die US-Politik oder Juden seien schuld an fast allen Konflikten in der Welt; Rede von einer weltweiten, von Israel gelenkten „zionistischen Verschwörung“).

3. Der Holocaust mit sechs Millionen Toten wird geleugnet oder relativiert.

4. Es wird das Vorurteil verbreitet, „die Juden“ nutzten die Erinnerung an den Holocaust für ihre Vorteile aus.

 

5. Israel oder „die Juden“ werden selbst für Antisemitismus verantwortlich gemacht. 6. Es werden unangemessene Vergleiche von Aktionen des Staates Israel mit den Verbrechen des Naziregimes vorgenommen.

7. Erinnerungs- und historische Verantwortungsabwehr („Schlussstrich“) in Bezug auf die NS-Vergangenheit.

8. Israel wird diffamiert als künstliches „zionistisches Gebilde“, das kein Existenzrecht habe.

9. Juden in Deutschland werden kollektiv für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht.

10. Es werden antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet (z.B. hinter den Anschlägen des 11. September stecke eigentlich der Mossad).(Themenblätter im Unterricht / Nr. 93: Antisemitismus, hrsg. von der BfpB)

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Der neue Antisemitismus äußert sich häufig in Bezug auf die Politik des Staates Israels. Ernst Ludwig Ehrlich hat in einer Analyse zu Antisemitismus und legitimer Israelkritik festgehalten, Kritik an Israel sei so erlaubt wie die an der Politik „jedes anderen Staates“. Es sei jedoch unzulässig, wenn Kritik an Israel zu einer „pauschalen Abwertung“ aller Juden und Jüdinnen führe. Natan Sharansky hat drei Kriterien festgehalten, die auf einen „israelbezogenen Antisemitismus“ zutreffen: „Dämonisierung“, „Doppelstandards“ und „Delegitimierung“.

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Drei D-Test (Natan Sharansky) -

Dämonisierung: Vergleiche Israels mit dem Nationalsozialismus und der palästinensischen Flüchtlingslager mit Auschwitz -

Doppelstandards: Kritik nur an Israel, nicht an anderen Staaten -

Delegitimierung: Absprechen des Existenzrechts Israels.

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Heute wird der Konflikt zwischen Israel und Palästina von manchen zur Darstellung ihrer antisemitischen Sichtweisen genutzt. Oft ist es aber schwer zu entscheiden, ob eine Kritik an Israels Politik gerechtfertigt ist bzw. in den Bereich der freien Meinungsäußerung fällt, so wie sie auch gegenüber vielen anderen Staaten erlaubt ist, oder ob es sich um antisemitische Hetze handelt. In Luxemburg hat zum Beispiel das jüdische Konsistorium Klage gegen die Magistratin Marguerite Biermann geführt, weil sie in einer öffentlichen Stellungnahme zum Konflikt zwischen Israel und Palästina Begriffe wie „Jüdische Lobby“ benutzte oder unterstellte, die Juden und Jüdinnen in Israel würden die Tatsache, Kinder von Nachkommen der Shoah zu sein, als Vorwand benutzen, um selbst Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen.

Sie verlangte auch, die jüdischen Menschen aus Luxemburg müssten sich öffentlich zum Israel­-Palästina­-Konflikt äußern. Das Gericht behielt schließlich die Anklage auf „Aufruf zum Hass gegen eine Religionsgemeinschaft“ nicht zurück, sondern verurteilte die Angeklagte lediglich wegen Beleidigung. In der Berufung wurde Biermann aus Formgründen auch von diesem Punkt freigesprochen.

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Am Schluss soll versucht werden, aufgrund der hier dargestellten geschichtlichen Entwicklungen einige Spezifizitäten des Luxemburger Antisemitismus festzuhalten:

1. In Luxemburg hat es im Unterschied zum Ausland keine antisemitischen Parteien oder Vereine gegeben. Es gab auch im Alltag bis auf wenige Ausnahmen keine antisemitisch begründeten Kundgebungen, Anschläge oder Plünderungen.

2. Der Luxemburger Antisemitismus war wurde nach dem Ersten Weltkrieg immer seltener öffentlich formuliert, dagegen eher hinter vorgehaltener Hand.

3. Bereits im 19. Jahrhundert war die Tendenz sichtbar, jüdische Menschen nicht als Teil der Luxemburger Mehrheitsgesellschaft zu sehen, sondern als Fremde. Diese Haltung der Luxemburger Mehrheitsgesellschaft ist in den Zusammenhang mit dem in dieser Zeit wachsenden Nationalismus zu stellen.

 

So war der „Überfremdungs“-Diskurs der 1930er Jahre oft eine Fassade, hinter der sich antisemitische Tendenzen versteckten. Diese Verbindung von Antisemitismus und Xenophobie ist auch heute noch zu erkennen.

4. Die antisemitischen Äußerungen nahmen in Luxemburg selten die rassistischen Formen an, wie sie in der nationalsozialistischen Ideologie zu erkennen sind. Dennoch wurden stets auch vermeintlich „jüdische“ Eigenschaften definiert, die angeblich kollektiv und vererbbar seien. Anfang der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts wurde von der katholischen Presse mit dem Verlangen nach einer „Reinerhaltung“ der christlichen Rasse oder der Darstellung des Judentums als „rassenmäßiger Fremdkörper“ der Antisemitismus auf eine rassistische Basis gestellt.

5. Antisemitische Stereotype wurden bis nach dem Zweiten Weltkrieg besonders von katholischen Exponenten und ihrer Presse formuliert, dies sowohl mit religiösen wie mit wirtschaftlichen „Argumenten“. Es lässt sich aber seit dem Ersten Weltkrieg auch in der sozialistischen Strömung, wenn auch weniger virulent, ein antikapitalistisch geprägter Antisemitismus beobachten.

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6. Vor dem Zweiten Weltkrieg kam es zur zunehmenden Betonung einer christlichen Volksgemeinschaft oder auch zur Verteidigung des Modells eines christlichen „Ständestaates“, die in sich die Idee eines jüdischen Ausschlusses bargen. Hier drückte sich auch der problematische Wunsch nach einer möglichst homogenen Gesellschaft aus.

7. Angesichts der jüdischen Fluchtbewegungen nach Luxemburg in der Vorkriegszeit äußerten sich antisemitische Tendenzen auch in einer weitgehenden Ablehnung und fehlenden Empathie von Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Das Fehlen einer solidarischen Tradition wirkte sich auch während des Zweiten Weltkriegs negativ auf die Schaffung von Hilfsnetzen für jüdische Verfolgte aus, wie sie in anderen westeuropäischen Ländern existierten.

8. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es in Luxemburg länger als in den Nachbarländern, bis es zur „Entdeckung“ der Shoah und zu einer Auseinandersetzung mit Luxemburger Verantwortlichkeiten in dieser Frage kam.

9. Auch in Luxemburg äußern sich heute wieder verstärkt antisemitische Stereotype. Dazu gehören auch manche linke Kritiken an der Politik Israels.

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Videoquellen

  • Gedenkfeier an den Holocaust im Kloster Fünfbrunnen, aus : RTL, Eng Stonn fir Lëtzebuerg vom 3. Juli 2005 zur Gedenkfeier an den Holocaust im Kloster Fünfbrunnen. Archiv : Centre national de l'audiovisuel (CNA) © RTL
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